Mai 2023
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Zweiter Frühling am Herbstweg

Stahlbau

In den vergangenen rund 100 Jahren standen am Zürcher Herbstweg zwei Reihenhäuser Wand an Wand. An ihrer Stelle entstand jüngst ein Neubau, der dank seiner Leichtbaukonstruktion alle Optionen für eine Wiederverwendbarkeit der verbauten Materialien offenlässt.


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Zahlreiche Elemente des Neubaus könnten theoretisch nach deren Nutzungsdauer wiederverwendet werden.
Zahlreiche Elemente des Neubaus könnten theoretisch nach deren Nutzungsdauer wiederverwendet werden.

 

Stahlbau

Zweiter Frühling am Herbstweg

In den vergangenen rund 100 Jahren standen am Zürcher Herbstweg zwei Reihenhäuser Wand an Wand. An ihrer Stelle entstand jüngst ein Neubau, der dank seiner Leichtbaukonstruktion alle Optionen für eine Wiederverwendbarkeit der verbauten Materialien offenlässt.

Text: Ulrich Stüss  / Bilder: Karin Gauch und Fabien Schwartz.

Der Neubau am Herbstweg in Zürich Oerlikon wirkt auf den ersten Blick wie ein herkömmliches Mehrfamilienhaus. Tatsächlich aber steht es auf zwei benachbarten Parzellen und wurde von zwei Eigentümerparteien gemeinsam geplant.
Als die Liegenschaft am Herbstweg 4 im Jahr 2018 verkauft wurde, trat die neue Eigentümerschaft mit ihren Neubauplänen und mit der Bitte um ein Grenzbaurecht an die Eigentümerschaft der Liegenschaft am Herbstweg 6 heran. Trotz unterschiedlicher Interessen fanden sie einen gemeinsamen Weg, um Nutzungsressourcen auszuschöpfen. Während der Partei am Herbstweg 6 ein Neubau für die eigene Familie vorschwebte, dachten die Nachbarn vom Herbstweg 4 eher an ein Renditeobjekt mit Mietwohnungen. Es entstand ein punktsymmetrisch die Parzellen übergreifender Neubau mit Erdgeschoss, drei Regelgeschossen und einem Attikageschoss.
Nördlich der Grundstücksgrenze leben nun die Eigentümer, die neben der Eigennutzung noch zwei zusätzliche Wohnungen erstellen liessen. Der südliche Teil des Hauses wird komplett vermietet: Eine 3,5-Zimmer-Wohnung sowie sechs weitere 2,5-Zimmer-Wohnungen verteilen sich über vier Geschosse.

Solothurner Schule in Zürich-Nord

In der Schweiz wird Stahl eher selten als Baumaterial für Wohnbauten ausgewählt. Obwohl Stahlbauten kurze Bauzeiten ermöglichen und vollkommen rezykliert werden können, befassen sich nur wenige Architekten damit. Jürg Graser ist dabei die Ausnahme, wohl auch weil er ein tiefes Interesse am Stahlbau durch Bauten der «Solothurner Schule» entwickelt hat. Über die Stahl-Glas-Bauten dieser Gruppe von Architekten aus den sechziger Jahren entlang des Jurasüdfusses erstellte er sogar seine Promotionsarbeit. Gemeinsam mit seinem Büropartner Beda Traxler konnte er dieses Doppelhaus als Stahlbau ausführen.
Die in den Innenräumen sichtbare Leichtbaukonstruktion nimmt sich die industrielle Stahlbauweise zum Vorbild. Die leichte Konstruktion und die teilweise achsversetzten Grundrisse schaffen grosszügigen Wohnraum unterschiedlicher Grösse. Dazu trägt bei, dass keine der 2,5-Zimmer-Wohnungen über konventionelle Türen verfügt – die Raumtrennung erfolgt mittels Schiebetüren oder Vorhängen.
Durch das Stahltragwerk entfallen tragende Wände gänzlich, Zwischenwände bestehen aus Holzrahmen, Dämmung und Gipsfaserplatten. Zusammen mit den Schiebetüren und Wohnvorhängen erlauben sie grundsätzliche Flexibilität bei der Raumaufteilung. Mit Ausnahme der Fertigbetontreppe, die ins 1. Obergeschoss führt, bestehen alle Treppenläufe aus feuerverzinktem und grün gestrichenem Stahl und die Treppenstufen aus ebensolchen Gitterrosten. Letzteres sorgt zusammen mit den Oberlichtern für eine angenehme Leichtigkeit und Tageslichteinfall im Treppenhaus.  

Der Stahlbau war taktgebend für den Bauvorgang, der gewerkweise und praktisch gerüstlos stattfand.
Der Stahlbau war taktgebend für den Bauvorgang, der gewerkweise und praktisch gerüstlos stattfand.

 

Bauvorgang Gewerk um Gewerk

Der Bau über Terrain besteht im Wesentlichen aus einer Brandmauer aus Stahlbeton, einer daran befestigten Stahlskelettstruktur, Stahl-Beton-Verbunddecken, Konstruktionshilfen aus Holz und einer Aluminiumfassade. Taktgebend für den Bauvorgang, der gewerkweise und praktisch gerüstlos stattfand, war der Stahlbau. Nachdem das Spezialtiefbauunternehmen seine Erd- und Fundationsarbeiten abgeschlossen hatte, erstellte der Baumeister das Untergeschoss (Bodenplatte, Wände und Decke) aus Stahlbeton. Anschliessend betonierte das Unternehmen den massiven Kern mit Brandmauer, Treppenhaus, Liftschacht und der Fertigbetontreppe ins 1. Obergeschoss. Durch die gewerkweise Bauausführung war die Betonstruktur im Bauzustand gegen Windeinwirkungen temporär zu sichern.
Nach Abschluss der Betonarbeiten übernahm das Stahlbauunternehmen die Baustelle. Es montierte das Stahlskelett und befestigte die bereits mit Kopfbolzendübeln vorgefertigten Stahlträger mittels Klebeankern am Stahlbetonkern. In dieser Etappe verlegte es ebenfalls die Verbundbleche der Geschossdecken. Dank den kurzen Spannweiten liessen sich die Decken nachfolgend ohne Unterspriessung betonieren.
Nach einem kurzen Gastspiel des Holzbauers zur Befestigung der Fassadenunterkonstruktion am Stahlskelett übernahm wiederum der Baumeister. Er verlegte die Bewehrung in den Verbunddecken und betonierte diese geschossweise in zwei Etappen aus. Den Abschluss machte dann der Stahlbauer mit der Montage der im Werk vorgefertigten Balkone, die aus einem Stahlrahmen und einer Betonplatte bestehen.  

Die Einlagen des Holzbauers dienen zur Befestigung der Fassadenunterkonstruktion am Stahlskelett.
Die Einlagen des Holzbauers dienen zur Befestigung der Fassadenunterkonstruktion am Stahlskelett.

 

Konstruktive Komposition

Das Stahlskelett und der Kern sind in Hybridbauweise erstellt: Die Hauptträger des Skeletts liegen in einer 90 Millimeter tiefen Aussparung in den Wänden der Brandmauer auf, die ausgemörtelt wurde. Die Geschossdecken wurden hingegen in Verbundbauweise hergestellt. Sie bestehen aus Stahlträgern mit aufgeschweissten Kopfbolzendübeln, genoppten Holorib-Blechen (Dicke 0,88 mm) als verlorener Schalung, einer Oberbewehrung und Ortbeton. Die vorgefertigten Balkone bestehen aus einem Stahlrahmen mit innenliegender Betonplatte. Bauseits wurden sie mittels Zugstangen an der Stahlkonstruktion befestigt und mit Isokorb-Stahlbaumodulen thermisch von dieser getrennt.
Was in Bezug auf die Träger aufgrund der Tragwirkung selbstverständlich ist, wurde aus praktischen Gründen als Prinzip auf die Stützen übertragen: Sie alle wurden mit dem Steg parallel zur Gebäudehülle verbaut. Dies ermöglichte eine Ausfachung der Stahlprofile mit Holz, wodurch der Fassadenbauer mit konventionellen Schrauben die Unterkonstruktion für die Fassadenpaneele erstellen konnte. Damit blieb das Gebäudeskelett von nachträglichen Montagebohrungen für die Befestigung der Aussenhaut aus fein profilierten, eloxierten Aluminiumpaneelen verschont.
Daneben ist das Stahlskelett nach folgender Logik konstruiert: Alle orthogonal zum Kern verlaufenden Träger sind aus einem Stück gefertigt – sie laufen als Primärträger vom Kern direkt zur Fassade oder an Knotenpunkten über die Stützen hinweg. Demgegenüber spannen alle parallel zum Kern verlaufenden Träger lediglich zwischen zwei Stützenachsen. Die Stützen in der Fassadenebene laufen – bis auf diejenigen, die Knoten mit den Primärträgern bilden – über die gesamte Gebäudehöhe (ca. 14,5 m) beziehungsweise bis auf Höhe des Attikageschosses (ca. 11,5 m) durch. Die Trägerabstände betragen praktisch durchgängig zwei Meter, was letztlich der Ausführung der Verbunddecken geschuldet ist: Nur so konnten diese ohne Bauhilfsmassnahmen erstellt werden. Für die horizontale Aussteifung des Stahlskeletts sorgen geschossweise montierte Windverbände.
Bezüglich Dimensionierung und Materialqualität sind alle Stützen und Träger gleich: Es wurden durchwegs Profile HEB 160 in einer Stahlqualität S355 verbaut. Die Verbindungen sichern hochfeste Schrauben M 16. Den Verbund mit dem Deckenbeton bewerkstelligen 10 cm lange Kopfbolzendübel (d = 19 mm) in einem Abstand von 15 cm auf den Trägern. Insgesamt besteht die Stahlskelett- und Deckenkonstruktion aus rund 60 t Stahl und etwa 800 m 2 Profiltafeln.
Beim Brandschutz setzte man auf einen situativen Schutz mit Bekleidung und partiellem Anstrich der Stützen und Träger. Der Nachweis für die Verbunddecken konnte ohne Brandschutzmassnahmen unter Berücksichtigung der Membrantragwirkung erbracht werden. Dieses Brandschutzkonzept ist derart mustergültig, dass die Gebäudeversicherung des Kantons Zürich den Bau am Herbstweg inzwischen als Anschauungsobjekt für Schulungen beizieht.   

Stahlskelett, Bodenaufbau und Fassadenkonstruktion verschmelzen zur Einheit.
Stahlskelett, Bodenaufbau und Fassadenkonstruktion verschmelzen zur Einheit.

 

Ein neuer Kreislauf kann beginnen

Die Architekten von Graser Troxler sind es gewohnt, die Materialisierungsfrage mit einem expliziten Vorschlag für die Stahlbauweise zu kombinieren. Einer der Bauherren dieses Projekts zeigte aufgrund seiner Ausbildung zum Matrosen eine Affinität zum Stahlbau. Die Architekten entwickelten daraufhin mit den Bauingenieuren von Büeler Fischli und den Stahlbauern der Senn AG eine einfache Konstruktion, die in ihrer Machart einem Hochregallager ähnelt. Durch geschraubte Verbindungen reduzierten sich die Kosten für die Stahlkonstruktion.

Die leichte Konstruktion und die teilweise achsversetzten Grundrisse schaffen grosszügigen Wohnraum unterschiedlicher Grösse.
Die leichte Konstruktion und die teilweise achsversetzten Grundrisse schaffen grosszügigen Wohnraum unterschiedlicher Grösse.

 

Zahlreiche Elemente des Neubaus könnten theoretisch nach deren Nutzungsdauer wiederverwendet werden. Am Herbstweg wären es bloss der Erschliessungskern aus Stahlbeton und der Beton der Verbunddecken, die nicht zerstörungsfrei abgetragen werden können. Die demontierbaren Stahlteile des Gebäudes sind zwar noch nicht in einem Bauteillager oder -katalog verzeichnet – jedoch würde man Anfragen von Vertretern aus der Kreislaufwirtschaftsbranche gewiss nicht abwimmeln.

Dieser Text wurde erstmals in einer längeren Version in der Mitgliederzeitschrift «steeldoc» 03/22, September 2022 Rückbaubare Konstruktionen» des SZS (Stahlbau Zentrum Schweiz) veröffentlicht.

 

Bautafel 

Objekt:

Herbstweg Zürich

Bauherrschaft:

Privat

Architekten:

Graser Troxler Architekten, Zürich

Stahlbau:

Senn AG, Oftringen

Ingenieure:

Büeler Fischli Bauingenieure GmbH, Ibach (SZ) und Zürich

 

Das Fachregelwerk Metallbauerhandwerk – Konstruktionstechnik enthält im Kap. 1.4.5 wichtige Informationen zum Thema «Ausführung von Stahlbauten».