Tragwerk versus Bauprodukt – welche Norm gilt?
Normen im Stahlbau
Unternehmungen, die tragende Bauteile herstellen, sind verpflichtet, die Regeln und Normen einzuhalten. Bei der Anwendung der Normen besteht ein Unterschied, ob es sich um ein Tragwerk oder ein Bauprodukt handelt. Den Unterschied zu erkennen, ist nicht immer einfach. Unsere Autoren haben sich dieses Themas angenommen und ordnen es wie folgt ein.
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Normen im Stahlbau
Tragwerk versus Bauprodukt – welche Norm gilt?
Unternehmungen, die tragende Bauteile herstellen, sind verpflichtet, die Regeln und Normen einzuhalten. Bei der Anwendung der Normen besteht ein Unterschied, ob es sich um ein Tragwerk oder ein Bauprodukt handelt. Den Unterschied zu erkennen, ist nicht immer einfach. Unsere Autoren haben sich dieses Themas angenommen und ordnen es wie folgt ein.
Autoren:
- Diego Somaini, Dr. sc. ETH, MSc Bau-Ing. ETH/SIA (Mitglied der Kommission SIA 263 Stahlbau).
- Andreas J. Bossenmayer, Rechtsanwalt, Verwaltungswissenschaftler, Leiter Fachbereich Bauprodukte und Europäische Angelegenheiten, Bundesamt für Bauten und Logistik.
– Artho Marquart (Präsident Metaltec Suisse).
Aktuelle Lage
Nach wie vor besteht in der Metallbaubranche eine gewisse Verunsicherung bezüglich der beiden Normen SN EN 1090-1:2009+A1:2011 und der SIA263/1:2020 Stahlbau – Ergänzende Festlegungen.
Folgende Fragen treten, nicht abschliessend aufgezählt, immer wieder auf:
• Wann muss die Norm SN EN1090 und wann die Norm SIA263/1 angewendet werden?
• Wer bestimmt, wann welche Norm angewendet wird?
• Wer ist für diese beiden Normen zuständig?
• Wann muss eine Leistungserklärung erstellt werden und wann nicht?
• Sind die Normen gesetzlich vorgeschrieben?
• Sind SIA-Normen «Anerkannte Regeln der Baukunde»?
• Muss die entsprechende Norm in der Ausschreibung erwähnt werden oder nicht?
Wir haben uns dieser Fragen angenommen und ordnen wie folgt ein:
In einem ersten Schritt gilt es zu klären, ob es sich bei den in Frage stehenden Stahl- oder Metallteilen um ein Tragwerk oder um ein Bauprodukt handelt. Die Frage wird aus der Sicht der Bestellung betrachtet und beantwortet.
Tragwerk
Die meisten Stahlbauunternehmen unserer Branche stellen Tragwerke wie Hallen, Brücken, Balkone und viele andere Stahlbaukonstruktionen her. Diese Tragwerke werden eigens für eine bestimmte Anwendung oder einen bestimmten Verwendungsort geplant, konstruiert und hergestellt. Die Planung sowie die Herstellung haben nach den «anerkannten Regeln der Baukunde zu erfolgen». Für die Herstellung kann sowohl die SIA 263/1:2020 als auch die SN EN 1090 herangezogen werden.
Bauprodukt
Bei Bauprodukten handelt es sich um Produkte, die hergestellt und in Verkehr gebracht bzw. auf dem Schweizer Markt oder dem europäischen Binnenmarkt bereitgestellt (gehandelt) werden. Da Bauprodukte vielfach nicht für ein bestimmtes Bauwerk an einem bestimmten Ort hergestellt werden, kann ihr Verwendungszweck und Einbauort unterschiedlich sein. Das Bundesgesetz über Bauprodukte (BauPG vom 21. März 2014, SR 933.0) regelt das Inverkehrbringen von Bauprodukten und ihre Bereitstellung auf dem Markt. Um technische Handelshemmnisse abzubauen und den freien Warenverkehr im europäischen Binnenmarkt zu ermöglichen, schreibt das Gesetz vor, dass für die Herstellung eines Produkts, das unter die SN EN 1090 fällt, die in dieser Norm festgelegten Prüf- und Bewertungsmethoden und Klassifizierungen angewendet werden müssen.
Im Brückenbau werden Brückenlager eingebaut, diese sind Bauprodukte. Die Brückenlager werden von den Verwenderinnen über den Handel oder direkt von der Herstellerin bezogen. Grundsätzlich können Brückenlager gemäss ihren Spezifikationen ortsunabhängig an unterschiedlichen Brücken eingebaut werden. In diesem Fall handelt es sich um ein Bauprodukt, das von einer harmonisierten Europäischen Norm hEN erfasst wird.
Unterschied zwischen Tragwerk und Bauprodukt
Tragwerk
Beispiel Stahlbrücke (siehe Bilder 2 und 3)
- Herstellung nach Plan Auftraggeber / Planer
- Prüfumfang nach Angaben Auftraggeber / Planer
Bauprodukt
Beispiel Brückenlager (siehe Bild 4)
- Planung des Produkts
- Bemessung des Widerstands
- Konstruktive Detaillösung
- Produktion nach Plänen Hersteller
- Prüfumfang nach Prüfplan Hersteller
Im Jahr 2019 wurde die SIA263/1 einer Teilrevision unterzogen. Insbesondere das Kapitel 11 wurde revidiert.
Dabei wurde der Zusammenhang der beiden Normen klar geregelt. Die EN 1090-1 ist eine unter dem BauPG harmonisierte und bezeichnete Produktenorm. Sie legt Anforderungen für das Inverkehrbringen der von dieser Norm erfassten Bauprodukte fest. Die SIA 236/1 hingegen legt Anforderungen an Ausführung von Tragwerken aus Stahl fest.
Die SIA263/1:2020 legt Folgendes fest:
• Bei der Anwendung der SIA 263/1 ist eine Zertifizierung nach SN EN 1090-1 gemäss Ziffer 11 erforderlich.
• Die SIA 263/1 kann Bestandteil einer vertraglichen Verpflichtung der Vertragsparteien sein. Mit dieser vertraglichen Verpflichtung verzichten die Parteien indirekt auf die Inanspruchnahme der möglichen Ausnahme zur Erstellung einer Leistungserklärung gemäss Art. 5 Abs. 2 BauPG.
Zwei wesentliche Punkte haben sich bei der Teilrevision der SIA 263/1:2020 geändert (siehe Tabellen)
Somit kommen in Blick auf die Zertifizierung des Herstellenden in beiden Fällen, ob Tragwerk oder Bauprodukt, die Anforderungen der EN 1090-1 zur Anwendung. Im Falle der Anwendung via die Tragwerksnorm SIA 263/1 kommt es allerdings darauf an, ob die Anwendung dieser Tragwerksnorm vereinbart worden ist.
Das Diagramm (Bild 5) verschafft Klarheit bezüglich Normen und deren Zuständigkeit.
SIA 263/1:2013
Kein Verweis auf SN EN 1090-1
Ausnahme gemäss Art. 5 Abs. 2 BauPG möglich
(Keine Leistungserklärung erforderlich, wenn Sonderanfertigung, Baustelle oder traditionelle Weise).
SIA 263/1:2020
Zertifizierung nach SN EN 1090-1 erforderlich gemäss Ziffer 11.
Keine Ausnahme gemäss Art. 5 Abs. 2 BauPG.
Anwendung der Norm SN EN 1090-1 und SIA 263/1
Am 20. September 2022 fand an der Geschäftsstelle von Metaltec Suisse in Zürich mit diversen Branchenvertretern eine Sitzung statt, deren Teilnehmer sich der Fragen bezüglich der beiden Stahlbaunormen angenommen haben.
Nachfolgend ist auf Grund von Fragen und deren Antworten beschrieben, wo die Unterschiede der beiden Normen liegen. Die Fragen konnten in Zusammenarbeit mit dem B undesamt für B auten und L ogistik ( BBL ) geklärt werden.
EN1090-1:2009+A1:2011
Ausführung von Stahltragwerken und Aluminiumtragwerken –
Teil 1: Konformitätsnachweisverfahren für tragende Bauteile
A) In welchem Kontext steht die SN EN 1090?
• Die SN EN 1090-1:2009+A1:2011 ist eine europäisch harmonisierte Produktenorm und dient durch die Festlegung von Merkmalen und Bewertungsmethoden dem Abbau von technischen Handelshemmnissen als Grundlage für den freien Warenverkehr und die Teilnahme der Schweiz am gemeinsamen Markt der EU und des EWR → MRA Schweiz - EU
B) Wann muss die SN EN 1090 angewendet werden?
• Stellt eine Herstellerin ein Bauprodukt her und wird dieses von der Norm SN EN 1090-1 erfasst, so muss sie die Festlegungen der Norm anwenden, damit sie eine Leistungserklärung gemäss Gesetz erstellen kann.
C) Wer ist zuständig für die Umsetzung dieser Norm?
• Zuständig für die Umsetzung dieser Norm ist die einzelne Herstellerin.
Das BBL ist für die Umsetzung der Bauproduktegesetzgebung zuständig.
Das BBL ist die zentrale Marktüberwachungsbehörde für das Inverkehrbringen und Bereitstellen von Bauprodukten auf dem Markt in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein.
SIA263/1:2020 Stahlbau – Ergänzende Festlegungen
A) Ist die Norm SIA 263/1:2020 gesetzlich vorgeschrieben?
• Die Norm SIA 263/1:2020 ist nur dann gesetzlich verpflichtend, wenn die Anwendung derselben in einer gesetzlichen Grundlage, wie bspw. in einem Gemeindebaureglement oder in einer Kantonsbauverordnung, gefordert wird.
B) Stellen SIA-Normen die «anerkannten Regeln der Baukunde» dar?
• SIA-Normen stellen grundsätzlich die «anerkannten Regeln der Baukunde» dar. Nach der geltenden Rechtspraxis besteht für die Normen des SIA eine entsprechende Vermutung.
C) Warum sollte das Unternehmen die SIA 263/1 anwenden?
• Sowohl die SIA 263/1 als auch die SN EN 1090 gelten als «anerkannte Regeln der Baukunde». Wird die Anwendung nicht durch die Bauherrschaft oder in einer gesetzlichen Grundlage, wie bspw. in einem Gemeindebaureglement oder in einer Kantonsbauverordnung, gefordert, so ist das Unternehmen frei in der Wahl der Norm.
D) Muss in einer Ausschreibung die Norm SIA 263/1 als Grundlage für die Werkserstellung erwähnt werden?
• In einer öffentlichen Ausschreibung ist es sehr empfehlenswert, die Norm als Grundlage für die Angebotserstellung zu erwähnen, um Klarheit über die zu verwendenden Normen zu schaffen. Der Ausschreibende kann zwar annehmen, dass das ausführende Unternehmen die «anerkannten Regeln der Baukunde» und damit verbunden die anzuwendenden Normen kennt, dieser kann jedoch auch andere, gleichwertige Methoden, die die «Regeln der Baukunde» auf gleichwertige Weise einhalten, anwenden.
E) Wer ist zuständig für die Umsetzung dieser Norm?
• Zuständig für die Umsetzung dieser Norm sind die einzelnen Unternehmen, es handelt sich um eine privatrechtliche Angelegenheit. Da es sich bei der SIA 263 und der SIA 263/1 um Tragwerksnormen für Bauwerke handelt, bei welchen vermutet werden kann, dass sie die anerkannten Regeln der Baukunde darstellen, gibt es einen inhaltlichen Zusammenhang mit den Baugesetzen und Verordnungen der Kantone und Gemeinden. Für die Umsetzung derselben sind die kantonalen und kommunalen Behörden zuständig.
Schlussfolgerung
Das schweizerische Zertifizierungssystem für die Herstellerinnen von Stahlbauten nach SIA263/1:2013 mit den Herstellerklassen H1 bis H5 wurde durch die Teilrevision im Jahr 2020 durch die Ausführungsklassen EXC1 bis EXC4 nach SIA263/1:2020 und analog der EN 1090-1 abgelöst.
Ab 2018 erfolgten keine Neuzertifizierungen nach SIA263/1:2013 mehr.
In der Zwischenzeit wurde für Tragwerke die Zertifizierung nach EN1090-1 in der Norm SIA 263/1:2020 integriert.
Somit hat sich lediglich das Zertifizierungssystem geändert, da auch schon vor der EN 1090-1 die Firmen verpflichtet waren, nach den «anerkannten Regeln der Baukunde» zu arbeiten.
Uns ist daran gelegen, die Unternehmen auf diesen Sachverhalt hinzuweisen. ■