Eine kompaktierbare Struktur von internationaler Reichweite
Tensegrity Cylinder / Verbindungstechnik
Pavillon Hermès-Paris, Watches and Wonders – In die von einem internationalen Team ausgeführte Planung und Entwicklung einer Struktur, die dazu bestimmt ist, die Errichtung von Strukturen mit minimaler Masse, «Minimal mass structures», zu fördern, ist auch das Tessin einbezogen.
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Tensegrity Cylinder / Verbindungstechnik
Eine kompaktierbare Struktur von internationaler Reichweite
Pavillon Hermès-Paris, Watches and Wonders – In die von einem internationalen Team ausgeführte Planung und Entwicklung einer Struktur, die dazu bestimmt ist, die Errichtung von Strukturen mit minimaler Masse, «Minimal mass structures», zu fördern, ist auch das Tessin einbezogen.
Seit mehreren Jahren plant und entwickelt BlueOffice Architecture aus Bellinzona unter der Leitung des Arch. Filippo Broggini in Zusammenarbeit mit anderen Architekten, Ingenieuren und Forschungsinstituten in der Schweiz und im Ausland hoch effiziente statische Systeme. Im Lauf der Jahre hat das Büro mit unzähligen geometrischen Systemen und Konfigurationen experimentiert: von den «traditionellen» Tensegrity-Lösungen mit diskontinuierlichen Stäben (TAD) über Tensairity (Tensegrity-Strukturen mit Druckluft) bis hin zu Lösungen mit teilweise kontinuierlichen Stäben (TApC) nach den Modellen des Prof. René Motro aus Frankreich.
Strukturen mit minimaler Masse
Bei der Entwicklung dieser Geometrien hat sich die Forschungsarbeit von BlueOffice Architecture auf Tensegrity-Systeme mit kontinuierlichen Stäben (TAC) konzentriert, die geschlossene Druckringe aufweisen, um dem Ganzen eine höhere Steifigkeit zu verleihen. Aus dieser Forschungstätigkeit ist die Gesellschaft AEA applied engineered architecture entstanden, die das Ziel verfolgt, das Studium, die Erforschung und die Herstellung von Strukturen mit minimaler Masse (minimal mass structures) zu fördern.
Die folgende Darstellung zeigt ein weiteres Beispiel für die ästhetische Ausdruckskraft und die statische Komplexität dieser besonderen Raumnetzstrukturen. In den Jahren 2018–2019 konzentrierte sich die Forschung auf Basiskonfigurationen von Netzen aus Druckstäben und Seilen, bei denen die Druckelemente geschlossene Kreise bildeten. Die Studienmodelle wiesen eine höhere Steifigkeit solcher Netzwerke im Vergleich zu den TApC nach.
Von relativ einfachen Geometrien (Halbprismen, Halbwürfel) ist man dann auf komplexere Geometrien übergegangen (Kugeln, Hohlzylinder u. ä.), die alle aus immer gleichen «Einheiten» gebildet wurden. Der «Baustein» besteht aus vier Segmenten (Stäben), die sich im Raum im Zickzack kreuzen, ohne einander jemals zu berühren. Jeder Scheitelpunkt wird mit Edelstahlseilen verbunden, die das System komprimieren und ihm dadurch Steifigkeit verleihen.
Dank der Zusammenarbeit mit dem französischen Künstler Clément Vieille hat das Büro den Auftrag für die Planung und die Erstellung des Pavillons Hermès-Paris auf der Messe Watches and Wonders in Genf erhalten. Die Pandemie und die dadurch bedingte sanitäre Krise haben eine lange Wartezeit auferlegt, während der es uns aber möglich war, das Projekt in Zusammenarbeit mit EPFL-CCLab hinsichtlich der Verbundmaterialien (Kohlefaser) und der Montage und mit SUPSI-MEMTI für die mechanische Berechnung der Verbindungselemente weiterzuentwickeln.
Die Optimierung bestand in der genauen Berechnung aller Bestandteile des Verbindungselements, für die auch optische Anforderungen massgeblich waren. Ein hervorragendes Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen Bauingenieur, Maschinenbauingenieur, Architekt und Künstler.
Die Geometrien der Struktur wurden mittels Form Finding optimiert und dann mit der Methode der dynamischen Relaxation (dynamic relaxation method) und mit der Finite-Elemente-Methode FEM berechnet.
Kompaktierbar und strukturell optimiert
Es war der ausdrückliche Wunsch des Künstlers, ein kompaktierbares Gebilde zu schaffen, was sich als weitere Herausforderung herausgestellt hat. Die Studienmodelle hatten auf die Fähigkeit von Hohlseilgeometrien hingewiesen, sich unter Ausübung eines leichten Drucks auf ihre senkrechte Achse zu komprimieren.
Konzeptionell musste sich die Tensegrity-Struktur in einem Zustand des «Vor-Gleichgewichts» mit Überlagerung statischer und dynamischer Aspekte befinden. Eine von Prof. Landolf Rhode-Barbarigos ausgeführte Detailstudie hat das dynamische Verhalten der Struktur in ihren Kompaktierungsphasen sehr genau beschrieben. Bei Lockerung der Spannung einiger Elemente (radiale Seile) konnte die Höhe der Struktur von den üblichen 7,0 m auf 1,20 m gesenkt werden, was für die Handhabung und den Transport vom EPFL-Labor zum Ausstellungsort von grossem Vorteil war.
Die strukturelle Optimierung hat – wenngleich unter dem notwendigen Vorbehalt bezüglich der tragenden Querschnitte – eine beträchtliche Reduzierung des Gesamtgewichts auf zirka 240 kg ergeben, und zwar bei Belastungen (einschliesslich Sicherheitsfaktor) der Stäbe von 4,94 KN (Druck), der radialen Seile von 5,10 KN und der spiralförmigen Seile (intern und extern) von 2,30 KN.
Die Struktur besteht aus 180 Verbindungselementen, 180 Karbonstäben, 84 radialen Seilen, 348 spiralförmigen Seilen aus Edelstahl.
Die Stäbe sind entlang einer Schraubenlinie mit abwechselndem Aussen-Innen-Verlauf angeordnet. Alle Stäbe bilden gemeinsam einen einzigen geschlossenen Kreis, der sich auf sechs vorwärts-rückwärts verlaufenden Bahnen zwischen den sechs unteren Scheitelpunkten (Basis) und den sechs oberen Scheitelpunkten (Spitze) entwickelt.
Es werden zwei Arten von Seilen verwendet. Eine Art von Seilen komprimiert das gesamte Gebilde und ist auf 14 horizontalen Ebenen mit verschiedener Höhe angeordnet: Jede Ebene umfasst sechs Seile.
Bei der anderen Art von Seilen handelt es sich um spiralförmig angeordnete Seile mit rechtsdrehendem und linksdrehendem Verlauf. Es gibt zwei Familien: jene mit Bewegung ausserhalb des Zylinders und jene mit interner Bewegung. Daraus entsteht die Form eines Hohlzylinders (corde creuse, hollow rope) mit Aussendurchmesser 3,35 m, Innendurchmesser 1,65 m und 7,0 m Höhe (zwischen Basis und Spitze).
Weitere statische Tests
Am Ende der Ausstellung bei Hermès in Genf kehrte die Struktur in das Labor von EPFL zurück, wo sie einer neuen Serie statischer Tests unterzogen wird, um genau zu bestimmen, in welchem Mass die theoretischen Berechnungen mit dem echten Verhalten der Struktur übereinstimmen.
Da sich die Struktur komprimieren lassen muss, geht es um einen leicht dehnbaren «Mechanismus». Es wurde festgestellt, dass sich die Geometrie bei jeder Montage etwas ändert und dass die Form dazu neigt, sich zu verlängern oder zu verkürzen. Aus diesem Grund wurde bei jeder Montage ein dreidimensionales Scanning vorgenommen, um auf die genaue Position im Raum (X-, Y- und Z-Koordinate) jedes Verbindungselements zurückgreifen zu können. Offensichtlich entsprach diese reelle Anordnung nicht exakt der theoretischen Anordnung, die auf der Grundlage perfekter Geometrien generiert wurde. Daher wurden die reellen Punktkoordinaten bestimmt und dann neuerlich in die statischen Rechnungen eingefügt, was unter genauerer Beschreibung dessen geschah, was die Wirklichkeit gezeigt hat: Lastverteilung, Dehnungen, progressive Formveränderungen.
Kraft, Form und Materie
Bis heute stimmen Voraussagen und Realität überein. Es ist jedoch sehr wichtig, das Verhalten dieser Strukturen genau zu verstehen, um sie dann für Applikationen in der Architektur und im Bauwesen einzusetzen.
Diese Struktur mit komplexer Geometrie beweist, dass die Form noch eine Rolle spielt, denn sie ist Ausdruck eines besonderen statischen Verhaltens und der tiefen Verbindung zwischen Kraft, Form und Materie.
Projekte dieser Art sind nur mit einem interdisziplinären Ansatz durchführbar, der spezifische Spitzenkompetenzen nicht nur bei der Planung, sondern auch bei der Ausführung und der Montage miteinander verbindet.
Gewürdigt werden soll auch der Weitblick des Auftraggebers, der es verstanden hat, neue Herausforderungen wahrzunehmen, und die Chance geboten und dazu ermutigt hat, den schwierigen Weg von einem ersten Studienmodell bis zur Realität zu gehen. ■
Bautafel
Auftraggeber:
Hermès | Paris
Projektteam:
AEA applied engineered architecture | Bellinzona-Genève, Arch. Félix Stämpfli, Arch. Filippo Broggini
Clément Vieille, artiste plasticien | Saint Alban Leysse (F)
INGPH I Ingenieurbüro | Lausanne, Ing. Bernard Adam
University of Miami , College of Engineering Miami (USA), Prof. Landolf Rhode-Barbarigos
EPFL-CCLab | Lausanne , Prof. Thomas Keller, Ing. Tara Habibi
SUPSI-Mechanical Engineering and Material Technology Institute , Ing. Luca Diviani, Ing. Simone Salamina
Erbauer
LT Bruno Lehmann | Trub
Jakob AG, Trubschachen
BWB, Stans-Oberdorf
Mateduc composites, Ste. Gemme (F)
Friderici special, Tolochenaz
G.M.I. General Montaggi Industriali, Villadose (I)
AEA Et Clément Vieille, Montage (CH-F)